Ein modernes Wintermärchen für Erwachsene und Kinder.
Lies den ersten Teil hier.
Höre den Song zur Geschichte: the forest, my home.
Ohne nachzudenken geht Mina weiter. Schritt um Schritt ohne bestimmtes Ziel vor Augen. Der Wald wird immer dichter und schon bald kann sie weder die Stadt in der Ferne noch den Eingang in den Wald ausmachen. Mittlerweile kennt sie sich hier aus. Die Bäume sind zu ihren Freunden geworden und dessen Wurzeln zu ihren Wegweisern. Noch kann Mina die Rastlosigkeit in ihrem Innern spüren und deswegen läuft sie immer weiter. Beim Laufen lösen sich schwere Gedanken wie von selbst auf, Probleme finden ihre Lösung und Fragen ihre Antwort. Wenn Mina läuft, läuft auch ihr gesamtes System wieder geschmeidig, so scheint es ihr. Schon viele Male hat sie versucht zu meditieren, um ihren stets gefüllten Kopf zur Ruhe zu bringen, doch nie hatten die Meditationen denselben Effekt wie das Laufen. Ihre Füsse brachten auch ihre Gedankenmuster in Bewegung bis sie irgendwann keinem bestimmten Gedanken mehr nachhing und einfach war. Das war für Mina Meditation.
So auch im jetzigen Augenblick. Ihre Gedanken sind plötzlich nicht mehr wirbelnd und stürmisch, sondern wie Wolken, die am Himmel vorbeiziehen. Noch eine Weile geht sie so weiter, ihre Füsse haben den Weg noch immer gekannt. Bei einer besonders grossen Eiche bleibt sie stehen. Der Stamm ist so dick, dass Minas Arme ihn bei Weitem nicht umfassen können. Ihre Rinde ist rau und die Krone ausladend. Die Eiche muss eine der ältesten hier sein, denn keine andere ist so hoch gewachsen. Keine andere hat so dicke und ausufernde Wurzeln wie diese hier. Auch sie hat ihr Blätterkleid abgeworfen und sich in die Winterruhe begeben. Manchmal wünschte ich, ich wäre ein Baum, denkt Mina, denn die Ruhe und Standfestigkeit dieser Eiche hätte ich auch gerne.
Sie setzt sich zwischen zwei knorrige Wurzeln auf den weichen Waldboden, der mit Moos und dem Herbstlaub übersät ist, und lehnt ihren Rücken an den Stamm der Eiche. Schon oft ist sie hier gesessen. Der Platz scheint wie für sie gemacht, denn der Baumstamm passt haargenau zu ihrem Rücken. Ein besonderer Zauber geht von diesem Ort aus. Obwohl es ein ruhiger Ort ist, ist es hier nie langweilig. Oft besuchen Vögel und Eichhörnchen die alte Eiche und wenn Mina lange genug still dasitzt, nähern sie sich ihr mit einer unverhohlenen Neugier. Manche Vögel pfeifen ihr ein Lied vor oder erlauben ihr sogar für einen kurzen Moment in die Augen zu schauen. Minas Nervensystem beruhigt sich an diesem Ort immer. Sie fühlt sich eins hier, als ob sie hier hingehören würde. Nicht weit von der Eiche entfernt gibt es einen Bach, der mit seinem kristallklaren Wasser den Berg hinunterfliesst. Wenn sie sich konzentriert, kann sie sogar sein leises Rauschen von hier aus hören. Es ist ein altbekanntes Lied, das Lied des Wassers, das sie an ihre Heimat erinnert.
Doch heute ist nicht der Bach ihr Ziel, sondern die Eiche, die ihr die Ruhe schenkt, nach der sie sich bereits den ganzen Tag gesehnt hat. Abseits der Stadt und abseits ihres Alltags findet sich diese eigentlich ganz leicht.
Und während Mina so dasitzt und die Minuten verstreichen lässt, wohlig warm in ihren Mantel gehüllt und energetisiert von ihrem Lauf, spürt sie plötzlich ein kühles Kitzeln auf ihrer Nase. Mina blickt auf und stellt überrascht fest, dass es schneit. Kleine Schneeflocken tanzen vom Himmel. Erst zaghaft, dann immer mehr. Es kommt selten vor, dass es hier bereits im Dezember schneit, obwohl sich das doch alle Menschen wünschen, weil Schnee zur Weihnachtszeit gehört wie die Narzissen zu Ostern. Mina steht auf, richtet ihr Gesicht gen Himmel und breitet ihre Arme aus. Sie beginnt sich um sich selbst zu drehen, sich dem Tanz der Schneeflocken hinzugeben. Wie ein Kind streckt sie ihre Zunge aus dem Mund, um damit die Flocken einzufangen. Ein Lachen entweicht ihr. Endlich fühlt sie sich leicht und gefüllt mit Freude. Mina tanzt und lacht und hüpft und jubelt und merkt dabei gar nicht, wie die Schneeflocken immer dichter fallen und immer schneller beginnen um sie herumzuwirbeln. Ein regelrechter Schneesturm umfängt sie, der sie plötzlich mit einer ungeheuren Kraft vom Boden hebt. Mina bleibt das Lachen im Hals stecken. Sie schaut sich um und kann nichts mehr erkennen. Alles um sie herum ist in weiss gehüllt und sie spürt, wie sie immer höher gehoben und schneller gedreht wird. Sie schliesst ihre Augen, weil ihr vom Drehen übel wird, weil sie nicht weiss, wie ihr geschieht und weil es doch nicht sein kann, dass ein Schneesturm sie wie aus dem Nichts vom Boden heben kann. Irgendetwas geht hier nicht mit rechten Dingen zu, ich muss träumen, denkt Mina noch, bevor ihr immer schneller und lauter werdender Herzschlag alle weiteren Gedanken verscheucht. Ein Schrei möchte aus ihr dringen, doch er bleibt in ihrer Kehle stecken. Minas Hände nehmen wieder ihre verkrampfte Haltung ein. Sie möchten sich irgendwo festhalten, doch es gibt nichts, woran sie sich klammern könnten.
So schnell wie der Schneesturm gekommen ist, ist er auch wieder vorbei. Gerade als Mina denkt, ihr letztes Stündchen hätte wohl geschlagen, wird sie mit einem Ruck wieder auf dem Boden abgesetzt. Der Wind beruhigt sich und die Schneeflocken fallen wieder sanft und leise. Mina fasst sich an ihr Herz, um sich wieder zu beruhigen. Ihre Augen behält sie noch geschlossen. In diesem Wald sind ihr schon einige merkwürdige Dinge widerfahren. Eigentlich hätte sie dieser heftige Schneesturm nicht überraschen sollen und doch kann sie es jedes Mal wieder nicht nicht fassen, dass hier Dinge passieren, die sie mit ihrem Verstand beim besten Willen nicht erklären kann.
Mina atmet ein paar Mal tief ein und aus und öffnet dann ihre Augen. Sie steht sehr wohl noch im Wald, auch die alte Eiche ist noch da, doch damit enden die Ähnlichkeiten.
Gefällt dir meine Adventsgeschichte? Teile sie gerne mit deinen Freunden, Bekannten, deiner Familie und den Kindern in deinem Leben. =)